Was Noten übersehen…
Ferdinand sitzt mit gesenktem Kopf vor mir. Er kann es nicht fassen. Zwei Wochen lang hat er sich auf die Mathe-Schularbeit vorbereitet. Jeden Tag hat er geübt, seine Hausaufgaben gemacht und sich überwunden, doch zu lernen, obwohl es draußen so schön war. Und jetzt das: Eine vier!?
Sein Blick haftet auf dieser roten Zahl unter seiner Arbeit. Sein ganzer Fokus liegt auf diesem Ergebnis.
Ich schlage ihm vor, das Heft zu schließen. Einmal tief durchzuatmen und die Aufmerksamkeit auf einen weit wichtigeren Aspekt zu richten. Er beginnt auf gelbem Papier mit bunten Stiften eine farbenfrohe Sammlung zu erstellen:
Was habe ich in diesen zwei Wochen in Mathe Neues gelernt?
Worin habe ich mich verbessert?
Wobei habe ich mich besonders angestrengt?
Ich sehe, wie sich sein Gesicht langsam entspannt und sich die Enttäuschung langsam legt. Plötzlich steht der LERNPROZESS im Mittelpunkt.
Und was machen wir mit dieser Schularbeit? Wir überlegen: Was könnte auf Ferdinand gewirkt haben, was die Note übersieht?
Noten übersehen, wie Kinder geschlafen haben.
Sie übersehen Prüfungsangst und vergessen, dass jedes Kind unterschiedliche Voraussetzungen hat.
Noten erfassen nicht, ob sich die Eltern gerade getrennt haben oder die Katze gestern gestorben ist.
Sie bemerken keinen Liebeskummer und keine anderen Sorgen.
Noten erkennen nicht, ob das Kind gefrühstückt, verschlafen oder auf dem Schulweg gestritten hat.
Deshalb: Unsere Aufmerksamkeit darf IMMER auf dem Lernweg liegen, denn das ist sein Lerngeschenk, hier hat es sich weiterentwickelt.
Das Ergebnis steht an zweiter Stelle. Hier können wir hinsehen: Lag es an Prüfungsangst? Zeitdruck? Mangelnder Strategie? Ablenkung? Unpassende Aufgabenstellung? Was kann das Kind aus dieser Prüfungssituation lernen und beim nächsten Mal anders machen?
Lay back!
Es ist nur eine Ziffer auf einem Blatt.
Es liegt an uns, was wir darin sehen: Lerngeschenk oder Stolperstein?